Nach vier Tagen der gewalttätigen Konfrontationen zwischen Sicherheitskräften und regierungskritischen Demonstranten in Belarus hat sich die Regierung um Deeskalation bemüht. Am Donnerstag wurden nach offiziellen Angaben mehr als tausend während der Proteste festgenommene Menschen aus dem Gefängnis entlassen. Innenminister Juri Karajew entschuldigte sich zudem dafür, dass nicht an den Demonstrationen beteiligte "Passanten" bei den Polizeieinsätzen verletzt worden seien.
Erneute Zusammenstöße blieben offenbar aus. Zehntausende Menschen in der Hauptstadt Minsk und anderen Landesteilen demonstrierten wieder gegen die Wahl vom Sonntag, bei der laut offiziellem Ergebnis der seit 26 Jahren autoritär regierende Staatschef Alexander Lukaschenko mit klarer Mehrheit wiedergewählt worden sein soll. Die Proteste verliefen friedlich. Die Präsenz der Sicherheitskräfte in der Hauptstadt war am Donnerstag deutlich reduziert.
Die EU-Außenminister wollen am Freitagnachmittag in einer außerplanmäßig angesetzten Videokonferenz über mögliche Sanktionen gegen die Lukaschenko-Regierung beraten. Die EU hat die Wahl als "weder frei noch fair" kritisiert. Auch das harte Vorgehen gegen die Proteste sorgt für internationale Empörung.
Litauens Außenminister Linas Linkevicius nannte den Gewalteinsatz gegen Demonstranten einen "Skandal". In einem vorab veröffentlichten Interview der "Welt am Sonntag" forderte er Sanktionen, um der belarussischen Führung die "Grenzen aufzuzeigen". Litauen hat die nach der Präsidentschaftswahl geflüchtete Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja aufgenommen.
In Deutschland forderte die SPD eine gemeinsame Initiative der Bundesregierung mit Frankreich und Polen zur Bewältigung der Belarus-Krise. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Polens Staatschef Andrzej Duda sollten zusammen nach Minsk reisen, sagte der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Dort sollten sie Lukaschenko "unmissverständlich klar machen, dass er sofort mit der Gewalt aufhören und den Dialog mit der politischen Opposition suchen muss".
Die Bundesregierung bat am Donnerstag den belarussischen Botschafter zu einem "dringenden Gespräch" ins Auswärtige Amt, wie am Abend aus dem Ministerium verlautete. Laut "Bild-"Zeitung wurde Botschafter Boris Sidorenko dabei die deutsche Position zur Lage in dem osteuropäischen Land mitgeteilt. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) hatte zuvor für mehr "Druck auf die Machthaber" in Belarus plädiert und das "brutale Vorgehen" gegen friedliche Demonstranten als "im Europa des 21. Jahrhunderts nicht akzeptabel" verurteilt.
Bei den Protesten der vergangenen Tage waren nach Angaben der belarussischen Regierung mindestens 6700 Menschen festgenommen worden. Zwei Demonstranten kamen zu Tode und dutzende wurden verletzt. Senatspräsidentin Natalya Kotschanowa teilte dann am Donnerstagabend mit, dass "mehr als tausend Menschen" unter der Auflage freigelassen worden seien, nicht mehr an ungenehmigten Demonstrationen teilzunehmen.
Laut Kotschanowa ordnete Lukaschenko zudem eine Untersuchung an, um "allen Fällen von Inhaftierung auf den Grund zu gehen". Ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP beobachtete, wie festgenommene Menschen das Okrestina-Gefängnis in Minsk verließen. Sie wurden vor den Toren von hunderten Verwandten und Freunden empfangen. Freiwillige Helfer gaben ihnen Decken und Nahrung und boten ihnen Fahrten nach Hause an.
Viele der Freigelassenen wirkten ängstlich und erschöpft. Laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichteten Festgenommene, dass sie schwer verprügelt worden seien oder ihnen Vergewaltigung angedroht worden sei.
Tausende Menschen standen am Donnerstagabend mit erleuchteten Handys und Blumen auf zentralen Straßen in Minsk, um den Rücktritt Lukaschenkos zu fordern. Zuvor am Tag hatten zehntausende Demonstranten Menschenketten gebildet. Viele trugen Weiß, die Farbe der Opposition. Auch in einen halben Dutzend anderer Städte formierten sich laut Lokalmedien Demonstranten zu Menschenketten.
Bei der Wahl soll Lukaschenko nach offiziellen Angaben mehr als 80 Prozent der Stimmen errungen haben, Tichanowskaja nur rund zehn Prozent. Die Opposition spricht von massivem Wahlbetrug.
by Von Tatiana Kalinovskaia