Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat überraschend angekündigt, dass Russland “keine neuen ukrainischen Gebiete erobern” möchte. Stattdessen zielt der Kreml darauf ab, die bereits annektierten Gebiete vollständig zu kontrollieren. Ein Blick auf die Landkarte verdeutlicht, dass Moskau damit ein ehrgeiziges Vorhaben verfolgt.
Der ursprüngliche Plan des Kremls, die Ukraine in wenigen Tagen zu erobern, wurde nach einer 17-monatigen “Spezialoperation” verworfen. Der von Präsident Wladimir Putin im Februar 2022 angestrebte Einmarsch in Kiew ist nie erfolgt. Man könnte sagen, die “Mission ist gescheitert”, wenn Russland nicht weiterhin die Ukraine mit Bomben und Drohnenangriffen überziehen würde, dabei Kinder und Zivilisten töten und weite Teile der Ostukraine besetzen würde. Die jüngste Äußerung von Kremlsprecher Dmitri Peskow ist daher bemerkenswert: Während fast alle Groß- und Regionalmächte außer Russland zu einem Ukraine-Treffen in Saudi-Arabien versammelt waren, erklärte Peskow, dass Russland keine neuen Gebiete in der Ukraine erobern wolle. Damit verabschiedet sich Russland erstmals öffentlich von dem ursprünglichen Plan, die Ukraine vollständig unter russische Kontrolle zu bringen. Dennoch bedeutet das nicht, dass Russland sich mit den bereits kontrollierten Gebieten begnügt: “Russland will die Gebiete kontrollieren, die in der Verfassung festgelegt sind.”
Diese Gebiete umfassen die 2014 annektierte ukrainische Halbinsel Krim sowie seit 2022 die Oblasten Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. Die Gebiete auf dem Festland befinden sich allerdings nur teilweise in russischer Hand. “Moskau strebt jedoch an, diese Gebiete zu 100 Prozent unter russische Kontrolle zu bringen”, erklärt der österreichische Oberst Markus Reisner. “Daher werden die Kämpfe natürlich fortgesetzt.” Ein Blick auf die Karte verdeutlicht, dass den Russen für dieses neue Eroberungsziel noch eine beträchtliche Landfläche fehlt. Derzeit kontrolliert Moskau im Süden der Ostukraine 64 Prozent der Region Cherson, was einer Fläche von etwa 18.000 Quadratkilometern entspricht. Rund 36 Prozent, also etwas mehr als 10.000 Quadratkilometer, sind in ukrainischer Hand. In der östlich angrenzenden Oblast Saporischschja hat Russland derzeit 72 Prozent in Besitz, was knapp 20.000 Quadratkilometern entspricht. Weiter östlich in der angrenzenden Region Donezk kontrollieren die Russen lediglich 56 Prozent – hier fehlt also noch fast die Hälfte.
Nördlich davon liegt Luhansk, das mit 98 Prozent und einer Fläche von über 26.000 Quadratkilometern fast vollständig in russischer Hand ist, ähnlich wie die Krim. Zusammengefasst muss die russische Armee eine Fläche von 30.154 Quadratkilometern Land erobern, um das Ziel des Kremls zu erreichen. “Da gibt es noch einiges zu tun”, fasst Militärexperte Reisner die Zahlen zusammen. Ob die russischen Streitkräfte grundsätzlich in der Lage sind, eine solche Übernahme des gesamten Territoriums der genannten vier Oblaste zu bewältigen, hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Dazu zählen laut Reisner insbesondere der weitere Verlauf der laufenden ukrainischen Offensive, mögliche Ergebnisse der voranschreitenden russischen Gegenoffensive westlich von Kupjansk und Svatove sowie die generelle Fähigkeit Russlands, die eigenen Misserfolge der letzten Monate zu überwinden. “Die bisherigen Anstrengungen der russischen Landstreitkräfte sind nach wie vor defensiv ausgerichtet”, so Reisner. Eine umfangreiche offensivere Fähigkeit auf russischer Seite ist bisher noch nicht erkennbar. Auch deshalb wird vermutet, dass die Vorstellungen des Kremls in der Praxis nur schwer umsetzbar sein dürften.