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Britische Regierung wegen Treibstoffmangels unter Druck

Zahlreiche Berufsgruppen fordern Bevorzugung - Verkehrsminister weist Verantwortung von sich

Der Benzin-Mangel an den britischen Tankstellen bringt die Regierung zunehmend in Erklärungsnot. Am Dienstag diskutierte das Land darüber, bestimmte Berufsgruppen bei der Versorgung mit Treibstoff zu bevorzugen - etwa Ärztinnen, Pfleger, Lehrende oder Polizeikräfte. Grund für das Chaos an den Tankstellen sind Lieferschwierigkeiten; dem Land fehlen auch infolge des Brexits zehntausende Lkw-Fahrer. Die Regierung dagegen machte vor allem Hamsterkäufe verantwortlich.

Der Vize-Vorsitzende des Ärzteverbandes, David Wrigley, sagte am Morgen im Sender SkyNews: "Wir können nicht zwei oder drei Stunden in der Schlange warten, wir müssen Patienten versorgen." Sanitäterin Jennifer Ward berichtete der "Daily Mail", sie habe in Norfolk fünf Tankstellen abfahren müssen, bis sie den Rettungswagen schließlich habe auftanken können. "Wir haben schon einen stressigen Job, wir brauchen nicht noch mehr Sorgen."

Unison, die größte Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, forderte, systemrelevante Beschäftigte müssten vorrangig tanken können. "Die Regierung könnte dieses Problem jetzt lösen, indem sie per Notfallbefugnis Tankstellen für die ausschließliche Nutzung durch systemrelevante Beschäftigte ausweist", sagte Unison-Generalsekretärin Christina McAnea.

Der Chef der Lehrergewerkschaft NASUWT, Patrick Roach, kritisierte, die öffentlichen Verkehrsmittel seien für viele seiner Kolleginnen und Kollegen keine Option - ihre Schulen seien nur mit dem Auto erreichbar. Der Chef des Verbands der Lieferdienste, David Brown, sagte AFP, die Fahrer seiner Firma würden keine längeren Fahrten mehr annehmen, weil sie "darum kämpfen, Treibstoff aufzutun".

Auch die Zeitung "Mirror" forderte am Dienstag auf der ersten Seite, systemrelevante Beschäftigte müssten an den Zapfsäulen zuerst drankommen. Das Boulevardblatt "Sun", normalerweise auf seiten von Premier Boris Johnson, kritisierte die Regierung wegen des seit vier Tagen andauernden "Chaos". "Bekomms in den Griff, Premierminister. Die öffentliche Geduld ist nahezu erschöpft."

Verkehrsminister Grant Shapps machte dagegen die Autofahrerinnen und Autofahrer des Landes verantwortlich: "Je eher wir alle zum normalen Einkaufsverhalten zurückkehren, desto schneller können wir zur Normalität zurückkehren", sagte er auf SkyNews. Der Chef des Tankstellenverbands, Brian Madderson, sagte dem Sender, es werde hoffentlich im Laufe der Woche "erste Anzeichen einer Stabilisierung" der Lage geben.

In Großbritannien fehlen Schätzungen zufolge rund 100.000 Lkw-Fahrer. Tankstellenbetreiber wie Shell, BP und Esso betonen, es gebe "reichlich Treibstoff in den britischen Raffinerien" - es fehlten aber die Fahrer zum Ausliefern. Die Konzerne rechnen mit einer Normalisierung der Lage in den kommenden Tagen.

Der Fahrermangel wirkt sich auch auf die Belieferung anderer Bereiche auf der Insel aus: In Supermärkten, Fastfood-Restaurants und Kneipen fehlt es an Lebensmittel und Getränken. Auch dutzende Fußballspiele wurden abgesagt, manche Schulen kündigen bereits die mögliche Rückkehr zum Homeschooling an.

Gründe für den beispiellosen Mangel an Lkw-Fahrern sind der Brexit und die Corona-Pandemie. Um die Krise beizulegen, hatte die Regierung am Wochenende eine vorübergehende Lockerung der Visa-Bestimmungen für ausländische Lkw-Fahrer und Fachkräfte aus anderen Branchen beschlossen. Dies ist eine klare Abkehr von der restriktiven Einwanderungspolitik von Johnson, die er seit dem Austritt aus der EU verfolgt. Johnson hatte wiederholt erklärt, er wolle Großbritanniens Abhängigkeit von ausländischen Arbeitskräften beenden.

Schnelle Abhilfe könnte der Einsatz der Armee bringen; die Regierung hatte am Montagabend angeordnet, das Militär solle sich bereithalten.

by Ben STANSALL