Seit Monaten bittet die Bundesregierung: "Unterstützt uns im Kampf gegen Corona." Unter anderem mit Hilfe der offiziellen deutschen Corona-Warn-App sollen Infektionsketten möglichst schnell durchbrochen werden. Dazu wird anonym überprüft, ob sich ein Nutzer längere Zeit in unmittelbarer Nähe einer infizierten Person aufgehalten hat. Zuletzt gab es jedoch vielerorts wieder immer mehr Neuinfektionen.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (40) musste etwa am 19. September darauf hinweisen, dass mit nahezu 2.300 Neuansteckungen innerhalb eines Tages ein neuer Höchstwert seit April gemeldet wurde. Dass die App unterdessen tatsächlich wirksam vor Kontakten warnt, halten Experten teilweise nicht für gegeben.
"Damit die Corona-Warn-App wirklich etwas bringt, sollte sich die Zahl der Downloads verdoppeln", warnte der Ökonom Gert Wagner, Mitglied des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen, Ende August im Gespräch mit "Welt am Sonntag". Zu diesem Zeitpunkt war die App mehr als 17 Millionen Mal heruntergeladen worden. Bei einem Kontakt von einem Infizierten mit einer anderen Person liege rechnerisch "die Wahrscheinlichkeit, dass beide Personen die App haben, bei sechs Prozent", erklärte der Ökonom damals. Selbst bei einer Verdopplung und unter der Voraussetzung, dass sich alle Betroffenen auch per App melden, könnten demnach nicht mehr als 25 Prozent der Infektionen ausgemacht werden.
Seither sind aber verhältnismäßig wenige Nutzer hinzugekommen. Anfangs sah es so aus, als ob die Corona-Warn-App ein echter Dauer-Download-Renner werden könnte, doch die Zahlen flachten ab. 18,4 Millionen Mal wurde die Corona-Warn-App bisher insgesamt auf iPhones und Android-Smartphones heruntergeladen (Stand: 22. September). 34 Millionen Nutzer sollten es laut Wagner mindestens sein, damit das Programm auch wirksam ist. Laut des Portals "Statista" gab es Ende 2019 rund 58 Millionen Smartphone-Nutzer in Deutschland. Demnach müssten fast 60 Prozent aller Deutschen mit Smartphone die App nutzen.
Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, erklärte der "WamS", dass eine Kontaktverfolgung durch eine Anwendung erst Erfolg verspreche, wenn 80 Prozent der Bevölkerung die App auch nutzten. "Dahin können wir mit einer freiwilligen Lösung nicht kommen", meint sie. Auch rein rechnerisch scheint dies geradezu utopisch. 2019 lebten laut des Statistischen Bundesamts (Destatis) 83,2 Millionen Menschen in Deutschland. Es müssten also mehr als 66,5 Millionen Bürger ein Smartphone besitzen - und jeder einzelne davon müsste das Programm auch nutzen. Bisher sind die Nutzung der App und auch das Melden einer Ansteckung freiwillig.
Bei mehr als 83 Millionen Menschen in Deutschland und bisher über 274.000 bestätigten Fällen (Stand: 22. September), von denen rund 243.700 als genesen gelten, wurden seit dem 16. Juni 2020 laut Robert Koch-Institut (RKI) insgesamt 4.373 teleTANs ausgegeben, um ein positives Testergebnis zu verifizieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein solches Ergebnis dann auch tatsächlich in der App gemeldet wurde und entsprechende Kontakte informiert werden konnten.
Außerdem kommt hinzu, dass wenige Wochen nach dem Start der App bekannt wurde, dass bei vielen iPhones die Kontaktüberprüfung nur lückenhaft funktioniert hatte. Dies ging aus Recherchen von "tagesschau.de" hervor. User wurden demnach teils über mehrere Wochen nicht darüber informiert, ob sie in Kontakt mit einer infizierten Person standen. Die "Bild" hatte zuvor auf ähnliche Probleme bei Android-Smartphones aufmerksam gemacht. Ende Juli waren entsprechende Fehler aber mit einem Update auf beiden Plattformen behoben worden.
Die deutsche Corona-Warn-App wurde erstmals am 16. Juni offiziell von der Bundesregierung vorgestellt. Spahn bezeichnete die Anwendung damals als ein "wichtiges Werkzeug bei der Eindämmung des Virus". Die deutsche App sei "mit Abstand die erfolgreichste Corona-Warn-App in Europa", zog er nun Bilanz. Sie sei "fester Bestandteil des Pandemie-Alltags in Deutschland" geworden. Die mehr als 18 Millionen Downloads seien ungefähr so viel wie in allen anderen EU-Ländern zusammengenommen.
"Mittlerweile wurden mehr als 1,2 Millionen Testergebnisse über die angebundenen Labore übertragen und fast 5.000 Nutzerinnen und Nutzer haben ihre Kontakte über die App gewarnt", erläuterte Spahn. "Das zeigt: Die Corona-Warn-App wirkt." Gleichzeitig sei die App kein "Allheilmittel". Spahn betonte aber erneut, dass es sich bei der Anwendung um ein "wichtiges Werkzeug" handle.